Ich ziehe meinen Hut, Herr Nachbar!

Neulich, mitten im Großstadtdschungel, vor unserem Wohnzimmerfenster, da hat sich, fast unbemerkt, ganz im Kleinen ein großes Zeugnis von Zivilcourage ereignet.
Was war passiert?

Es war schon spät. Die Laterne vor dem Fenster leuchtete majestätisch auf die einladende Sitzbank. Am Tage ein beliebter Sonnen- und Sammelplatz für Spaziergänger, Familien, Senioren, Verliebte oder Streitende. Nachts nicht selten Ankerpunkt für verloren wirkende Seelen. Auch an diesem Abend schien es wie oft zu sein. Während allmählich die Lichter in den Fenstern drumherum erloschen, ertönte von draußen ein erbittertes Geschrei. Fluchen, Beschimpfungen, Tränen, dann wieder Geschrei – diesmal ein junge Frau. Was sie so verzweifeln lässt, ist in ihrer Aufregungen kaum zu verstehen.

Oder will ich es gar nicht verstehen? Ich bin genervt von dem Krach. Schnell tendiere ich innerlich dazu ebenfalls zu fluchen. Immerhin ist es doch schon spät. Was soll dieser Lärm? Kann diese Frau nicht woanders hingehen? Es hat starke Nerven gekostet, dass Kind zum Schlafen zu bringen. Eine weitere Nachtschicht muss wirklich nicht sein.

Was sich dann ereignet, hat mich wahnsinnig berührt: ein Nachbar aus dem Nebenhaus nähert sich der Bank. Tagsüber ist sein Markenzeichen meist ein auffälliger, brauner Hut. Ohne Vorbehalte spricht er die junge Frau an. Es scheint sich an anregendes Gespräch zu ergeben. Wie ich später erfahre, verzweifelt die junge Frau an einem Kampf mit Behörden. Sie braucht Hilfe, da sie ein krankes Familienmitglied pflegt. Wer kennt diese Situation nicht: Behördengänge, zumal in der Großstadt können Einen schnell an den Rande des Wahnsinns bringen.

Das Gespräch der Beiden scheint die junge Frau zu beruhigen. Freundschaftlich verabschiedet man sich. Herzhaftes Weinen bricht aus der Frau heraus. Der erste Schritt zu neuem Mut. Sie kommt wieder zu sich und geht nach Hause. Als sie Tage später an mir vorbeiläuft sind ihre Probleme vermutlich noch immer nicht gelöst. Aber, sie wirkt gefasst – weit entfernt von der scheinbar verrückten Person von neulich Nacht.

Ich ziehe meinen Hut Herr Nachbar! Dieser kleine Schritt ist für mich ein herzerwärmendes Beispiel von Achtsamkeit und Zivilcourage. Nicht nur für diese junge Frau war es eine große Geste – für mich folgt daraus eine Notiz an mich selbst: Vorurteile überdenken! Nicht den Mensch hinter einem Ereignis aus den Augen verlieren. Kurz innehalten bevor man sein Urteil fällt.

Danke für diese Erinnerung.